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Wer dich auf die rechte Wange schlägt …

Die Midrasch* auf dem Berg, Teil 3


Warum bezog sich Jesus in der Bergpredigt auf die rechte Wange (Matt. 5, 39)? Er hätte doch sagen können, die linke Wange oder die Wangenseite nicht spezifizieren müssen. War dies eine zufällige Wahl oder eine absichtliche?

Stell Dir vor, jemand steht vor Dir und will Dich schlagen. Ob mit geöffneter Hand oder geballter Faust, die meisten Menschen würden Dich wahrscheinlich auf die linke Wange schlagen, nicht auf die rechte. Um Dir auf die rechte Wange zu schlagen, wäre eine Person vermutlich Linkshänder. Nach wissenschaftlichen Schätzungen sind 5 bis 30 % der Bevölkerung Linkshänder. Hat sich Jesus nur auf eine Minderheit gewaltbereiter Linkshänder bezogen?

Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit. Ein Schlag mit der Rückseite der rechten Hand würde typischerweise auf der rechten Wange der anderen Person landen. Doch warum sollte Jesus sich genau auf einen solchen Schlag beziehen? Was bedeutet ein Schlag ins Gesicht mit dem Handrücken? Eine Beleidigung.

Die rabbinischen Diskussionen im Talmud zeigen, dass die Gerichte jener Zeit verschiedene Strafen für unterschiedliche Arten des Angriffs verhängten, basierend auf dem Grad der Demütigung (Bawa Kamma 90a). Schlug ein Mann einen andern mit der Faust, bekam er eine Strafe eines Selas (das sind 4 Susim oder römische Dinare). Gemäß eines beliebten alten Passah-Kinderlieds wäre das ausreichend für den Kauf zweier Babyziegen. Eine andere Strafe für dasselbe Vergehen war deutlich höher: 100 Dinare.

Schlug ein Mann seinen Gefährten jedoch mit offener Hand auf die Wange, musste er 200 Dinare bezahlen. Schlug er seinen Gefährten aber mit dem Handrücken auf die Wange, musste er die Höchststrafe zahlen – 400 Dinare. Das sind eine Menge Ziegen! Wir lernen daraus, dass ein Schlag auf die Wange mit dem Handrücken die schlimmste Form der Beleidigung war. Indem sich Jesus auf die rechte Wange bezog, forderte er Selbstbeherrschung in Situationen extremer Demütigung.

Einige Christen interpretieren Jesu Verweis auf das „Hinhalten der anderen Wange“ als Rat zum Pazifismus, sogar in lebensbedrohlichen Situationen, wie in Kriegszeiten. Seine Zuhörer verstanden jedoch, dass sich Jesus auf Streitigkeiten zwischen Menschen im Alltag bezog – zwischen Nachbarn, zwischen Käufer und Verkäufer, ja sogar zwischen Brüdern – jene Art von Streitigkeiten, die zu wechselseitigen Schlägen führen können.

Dass das Prinzip des „Hinhaltens der Wange“ auf Reaktionen auf Demütigungen begrenzt ist, wird durch Jesu darauf folgenden Hinweis bestätigt, in dem es um das Wegnehmen eines Kleidungsstücks geht (Matt. 5, 40; Luk. 6, 29). Beide Beispiele dieser Affronts werden auch zusammen in dem Abschnitt des Talmuds zitiert, in dem es spezifisch um Angriffe auf jemandes Ehre geht, das heißt Demütigung. Jesus war sich ganz klar der damaligen Diskussionen der Rabbiner dazu bewusst.

Ein weit verbreitetes Missverständnis oder zwei

Im alltäglichen Leben reagieren Menschen gewöhnlich mit Rache auf vermeintliche oder tatsächliche Kränkungen oder Verletzungen. Sie mögen sogar ihre Angriffe mit dem biblischen Prinzip „Auge um Auge“ rechtfertigen, während sie ziemlich engstirnig sind, nur um ihre Vergeltung zu bekommen. Daher hat Jesus das Prinzip des „Hinhaltens der anderen Wange“ dem Prinzip des „Auge um Auge“ gegenüber gestellt.

Gott hatte nie die Absicht, es der breiten Öffentlichkeit durch die Regel des „Auge um Auge“-Prinzips zu gestatten, Rache auszuüben. Sie war eine Richtlinie allein für die Richter in Israel, innerhalb der engen Grenzen des juristischen Systems. Selbstjustiz, bei der man Rache übt, ist eine vollständige Verdrehung des biblischen Prinzips und führt zu einer Gewaltspirale. Daher lehrte Jesus die Tugend, Beleidigungen stillschweigend zu ertragen, statt persönliche Regressansprüche durch wechselseitige Gewalt geltend zu machen.

Des Weiteren ist der Ansatz, das jüdische Volk habe in der Geschichte das Prinzip buchstäblich und brutal angewandt, wie oft von uninformierten Bibellehrern gelehrt, eine Fehlinterpretation. Wir haben dieses Thema mehrmals in HASCHIWAH behandelt. Kurz gesagt, abgesehen von Fällen absichtlichen Mordes, war die Strafe für einen körperlichen Angriff, der eine Demütigung oder eine Verletzung zur Folge hatte, stets eine Geldstrafe. Der Wert eines Auges musste mit dem Betrag im Wert einer Augenverletzung bezahlt werden. Der Wert eines Körperglieds mit dem Wert einer Verletzung desselben, und so weiter, nicht der Wert eines Auges mit dem Wert einer Verletzung eines Körperglieds. Eine Untersuchung aller biblischen Verweise auf dieses Prinzip zeigt, man ordnete eine geldliche Zahlung an.

Zudem berücksichtigten die Richter bei ihrer Strafe auch fünf Bestandteile des Schadenersatzes, die, sofern relevant, bezahlt werden mussten, nämlich (1) Schaden oder tatsächliche Verletzung, (2) Schmerz, (3) Demütigung, (4) medizinische Kosten und (5) Verlust der Existenzgrundlage.

Jesus wollte das Verlangen nach Rache mindern. Statt die Thora (das Gesetz) außer Kraft zu setzen, bestätigte er sie (siehe Teile I und II in den vorhergehenden Ausgaben). Das richtige Verständnis der Bergpredigt ist für Christen nicht nur an sich vorteilhaft, sondern beseitigt auch Feindseligkeiten gegenüber Juden, verursacht durch ein falsches Verständnis eines der Schlüsseltexte im Neuen Testament.


* eine rabbinische Predigt